Keine Miete für die Profite
Mitten auf dem Pflaster der Göttinger Fußgängerzone richtete sich der DGB-Kreisverband an einem Sonnabend im April 2019 für ein paar Stunden häuslich ein. Ein mit Druckluft aufgeblasenes graues Sofa, zwei Sessel gleicher Bauart, eine auf Sperrholz aufgemalte Stehlampe sowie ein ebenfalls nur aufgemalter Vogelkäfig – fertig war das mobile Wohnzimmer. Überraschte Passant*innen blieben stehen, sie kamen mit den Gewerkschafter* innen ins Gespräch, viele nahmen selbst auf den luftigen Möbeln Platz. Den Sinn der Aktion musste man kaum jemandem erklären. Denn die Losung auf dem Banner, das der DGB hinter der Sitzgruppe aufgespannt hatte, verstand wohl jeder: "Bezahlbar ist die halbe Miete."
"Als der DGB vor drei Jahren fragte: Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir leben? – da war für uns schnell klar, wo unser Schwerpunkt im Zukunftsdialog liegen würde: Bei den immer schneller steigenden Mieten", erzählt Sabine Ludewig, Mitglied im DGB-Kreisverband. "Mit unserer Aktion wollten wir erfahren, wo genau die Leute der Schuh drückt und wie wir als Gewerkschaften ihnen beistehen können. Das kam gut an. Die Leute schilderten uns, wie hoch ihre Mieten mittlerweile sind, sie berichteten uns von fehlerhaften Nebenkostenabrechnungen und davon, was mit der nächsten Modernisierung auf sie zukommt." Bezahlbares Wohnen, das zeigten die Diskussionen an diesem Tag, ist die zentrale soziale Frage in der Stadt.
Verlässliche Angaben, wie teuer Wohnraum in Göttingen heute ist, gibt es derzeit nicht. Seit Jahren schon drückt sich die Stadt davor, einen offiziellen Mietenspiegel zu erstellen. Berechnungen eines gewöhnlich gut informierten Internetportals ergaben jedoch, dass sich der durchschnittliche Quadratmeterpreis bei Angebotsmieten seit 2012 von rund 7,50 auf knapp 10,50 Euro erhöht hat. Zum Vergleich: In niedersächsischen Landesdurchschnitt müssen etwa acht Euro pro Quadratmeter gezahlt werden. "Wenn die Entwicklung so weitergeht", fasst Sabine die Lage zusammen, "dann wird Wohnen in Göttingen zum Luxus."
Damit will der DGB sich nicht abfinden. Aus der Aktion 2019 in der Fußgängerzone ist das Bündnis "Gutes Wohnen für Alle" entstanden. Gewerkschaften und Mieter* inneninitiativen, soziale Projekte, Sozialverbände, der Mieterbund, Wissenschaftler*innen und politische Gruppen teilen dort ihr Wissen, stimmen sich untereinander ab und ziehen immer wieder gemeinsam auf die Baustellen und vors Rathaus. Der DGB steuert seine Fachkompetenzen bei und vor allem seine Erfahrungen, wie man die Arbeit in einem Bündnis ganz praktisch organisiert, verschiedene Akteure miteinander vernetzt und seine Konzepte in die Öffentlichkeit hineinträgt.
Zur Kommunalwahl im Frühjahr 2021 schrieb das Bündnis alle demokratischen Parteien an und listete seine Forderungen auf: Bewahrung von städtischem Grund in städtischem Eigentum. Umfangreicher sozialer Wohnungsneubau. Mietenstopp. Keine Modernisierungen nur für die Dividende privater Großinvestoren. Statt Privatisierung von Wohnungsbeständen konsequente Rekommunalisierung. "Keine Miete für Profite! Der freie Markt ist keine Lösung!", erklärten Sabine und ihre Mitstreiter*innen.
Das mochten durchaus nicht alle Parteien unterschreiben. Doch zumindest einige Punkte aus dem Forderungskatalog fanden sich später in den Wahlprogrammen wieder. "Wir verfolgen jetzt aufmerksam, was die Parteien tun, und wir haken nach", sagt Sabine. "Wir lassen nicht locker, bis die Versprechungen auch umgesetzt werden."
Ein Stadtteil von Göttingen, in dem sich die Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum besonders zuspitzt, ist Grone. Hier hatte das Immobilienunternehmen Adler Real Estate 2019 mit einer großangelegten Modernisierung seiner Wohnblöcke begonnen: Neue Fenster, neue Dämmung, neue Balkone – das komplette Programm eben. Bei einem Ortstermin zweieinhalb Jahre später sind noch immer abgedeckte Dächer zu sehen, die nur notdürftig mit Planen überspannt wurden. "Regenwasser ist in Häuser und Wohnungen gelaufen, wir haben Fälle von Schimmelbildung an den Wänden", berichtet Hendrik Falkenberg, der im Ortsrat von Grone sitzt und von Beginn an im Bündnis "Gutes Wohnen für Alle" mitarbeitet. Adler hat inzwischen wegen Zahlungsschwierigkeiten die Wohnungen weiterverkauft. Ein Abschluss der Arbeiten ist auch unter dem neuen Eigentümer LEG Immobilien nicht in Sicht.
"Die ganze Modernisierung hat nichts mit den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Wohnungen zu tun. Sie soll lediglich als Begründung für eine Mietsteigerung herhalten", sagt Hendrik. Bislang liege die Grundmiete pro Quadratmeter hier noch bei günstigen 5,50 Euro. Nach der Sanierung sollen es 7,50 Euro sein. "Zwei Euro mehr pro Quadratmeter, das sind 36 Prozent Mieterhöhung. Damit wird bezahlbarer Wohnraum zerstört. Viele Mieterinnen und Mieter haben berechtigte Angst, dass sie aus ihrem angestammten Quartier verdrängt werden."
Es geht auch anders, auch in Göttingen. "Nur drei Straßen von hier, im Elmweg, beweist die Volksheimstätte als Genossenschaft, dass Wohnungsbewirtschaftung vernünftig funktionieren kann", betont Hendrik. "Oder nehmen wir den Leineberg. Dort hat die Städtische Wohnungsbau GmbH umfänglich saniert, auch dort gab es eine Mieterhöhung, aber sie fiel moderat aus."
Der DGB-Kreisverband und seine Partner fühlen sich durch solche Beispiele bestärkt in ihrer Forderung, dass die Wohnungswirtschaft in kommunale Hand gehört. Ihr Bündnis "Gutes Wohnen für Alle" verstehen sie als ein echtes Zukunftsprojekt. "Wir alle wollen uns dort, wo wir wohnen, auch wohlfühlen können – ohne Angst vor der nächsten Mieterhöhung. Lohnsteigerungen dürfen nicht von steigenden Mieten aufgefressen werden. Dafür kämpfen wir", sagt Sabine. "Wohnen ist schließlich ein Menschenrecht."
Hier geht es zu dem Beitrag über Göttingen in der Multimedia-Reportage über vier Jahre DGB-Zukunftsdialog.