Mehr Bildungsgerechtigkeit im Pisa-Gewinnerland
Dresden-Gorbitz hat alles, was Familien mit Kindern im Alltag brauchen. Das größte Plattenbaugebiet der sächsischen Landeshauptstadt verfügt über zehn Kitas, zwei Grundschulen, eine Oberschule und ein Gymnasium. Es gibt drei Kinder- und Jugendhäuser, Sportflächen und ein modernes Freizeitbad. Die meisten Wohnblöcke sind saniert, zwischen ihnen gibt es eine Menge Grünflächen. Drei Straßenbahnlinien bieten eine schnelle Verbindung in die Innenstadt. "Gorbitz ist eigentlich ein guter Platz zum Leben", sagt André Schnabel, Geschäftsführer der DGB-Region Dresden – Oberes Elbtal. Wo also liegt das Problem?
Das Problem liegt darin, dass die soziale Mischung in Gorbitz verloren geht. "Früher wohnten hier die Ärztin und der Ingenieur Wand an Wand mit der Kindergärtnerin und dem Facharbeiter", erzählt André. "In den letzten Jahren beobachten wir, dass viele Besserverdienende wegziehen. Der Anteil von Arbeitslosen in Gorbitz ist heute doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Stadt, die Zahl von Familien, die von Hartz IV leben, drei- bis viermal so hoch. Die Folgen davon spüren wir an vielen Orten, aber ganz besonders in den Schulen."
Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit – das ist das Thema, das die Gewerkschaften in Dresden im DGB-Zukunftsdialog zu ihrem Schwerpunkt gemacht haben. Weil sie spüren, dass etwas nicht stimmt, wenn nicht nur in Gorbitz immer mehr Eltern, die viel Wert auf gute Bildung legen, ihre Kinder anderswohin zum Unterricht schicken. Und weil sie einfach nicht akzeptieren können, "dass der Wohnort und die soziale Herkunft darüber entscheiden, was aus einem Kind einmal wird und ob es sein Potenzial ausschöpfen kann oder nicht", wie es André zusammenfasst.
Internationale Studien weisen nach, dass in kaum einem anderen Industrieland die Bildungschancen so ungleich verteilt sind wie in Deutschland. Juri Haas, der an einer Grundschule in Gorbitz unterrichtet und sich ehrenamtlich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) engagiert, liefert Zahlen: "Bis zu 25 Prozent der Jugendlichen in Gorbitz verlassen die Schule ohne einen Abschluss. Der sonderpädagogische Förderbedarf ist bis zu zehnmal größer als im Rest der Stadt. Während in Dresden insgesamt rund 60 Prozent der Grundschulkinder eine Gymnasialempfehlung bekommen, in manchen wohlhabenden Stadtvierteln sogar 80 Prozent, sind es hier in Gorbitz nur etwa 30 Prozent." Alle diese Angaben stammten aus dem aktuellen Bildungsbericht der Stadt, und sie seien allen Verantwortlichen seit geraumer Zeit bekannt. "Nur passiert ist nichts. Viertel wie Gorbitz kamen nicht vor, wenn das Pisa-Sieger-Land Sachsen über Bildung debattierte."
Bis der DGB aktiv wurde. 2019 lud er erstmals im Rahmen des Zukunftsdialogs zu einer Diskussion ins Dresdner Volkshaus ein. "Wir haben verschiedenste Akteure zusammengebracht und gemeinsam überlegt, was wir vernetzt miteinander anpacken müssen", sagt André. Der Dresdner Bildungsbürgermeister, der für die Bildung in der Stadt zuständig ist, kam. Auch Vertreter* innen aus Schulen, Sozialarbeit und der Industrieund Handelskammer hatte der DGB eingeladen.
Für die Gewerkschaften saß Juri Haas mit auf dem Podium. Er schilderte, dass er und seine Kolleg*innen in Gorbitz sehr viel mehr Zeit brauchen, um die Kinder und Jugendlichen sozial zu begleiten und zu unterstützen. Auch den grassierenden Personalmangel brachte er zur Sprache. "Lehrkräfte, die jetzt anfangen, können sich aussuchen, wo sie arbeiten wollen. Und viele gehen nicht an Schulen, wo sie von vornherein wissen, dass sie eine höhere Arbeitsbelastung erwartet", sagt er. "Es sind also immer weniger Lehrkräfte da, um sich mit den Problemen zu beschäftigen. Die Überlastung wächst, die Ausfallzeiten steigen weiter, die Probleme werden noch größer. Ein Teufelskreis."
Und wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? "Die Ansage aus der sächsischen Bildungsverwaltung war immer: Alle Schulen haben die gleichen Probleme, also bekommen auch alle die gleichen Ressourcen zugeteilt. Schulförderung wie mit der Gießkanne. Aber das funktioniert nicht. Schulen mit besonderen Problemen müssen auch besonders unterstützt werden, zum Beispiel, wenn für besonders viele Kinder Deutsch nicht die Familiensprache ist", fordert Juri. "Ungleiches muss auch ungleich behandelt werden!"
Vom großen Echo, das der Zukunftsdialog in der Stadt hervorrief, seien sie selbst überrascht gewesen, gestehen André und Juri. Als der DGB zu Beginn des aktuellen Schuljahres wieder ins Volkshaus einlud, war der Große Saal so voll, wie er unter Corona-Bedingungen nur sein durfte: Mehr als 80 Personen kamen – doppelt so viele wie erwartet.
Die vom DGB angestoßene Debatte zeigt Wirkung. "Wir bekommen Rückmeldungen aus den Lehrerzimmern, dass Klassen kleiner bleiben und eben nicht auf das erlaubte Maximum von 28 Schülern aufgestockt werden", berichtet André. "Wir hören von Schulen, die – unaufgefordert! – Klettergerüste für den Pausenhof angeboten bekommen. Es gibt plötzlich mehr Geld für die digitale Ausstattung. Zumindest zum Schuljahresanfang waren an Schulen, die bekanntermaßen größere Probleme haben, tatsächlich erstmals wieder alle Lehrerstellen besetzt. Unsere Botschaft ist endlich angekommen."
An einem "Runden Tisch Bildungsgerechtigkeit" will der DGB in Dresden nun mit Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung und Menschen aus der Praxis die Debatte fortführen und vertiefen. Um den konkreten Bedarf von Schulen zu ermitteln, soll ein Sozialindex her, wie er in anderen Bundesländern längst üblich ist. "Der Zukunftsdialog", sagt André, "ist für uns genau die passende Plattform, auf der wir das Thema der Bildungsgerechtigkeit gut verhandeln können. Weil wir hier nicht nur reden, sondern dazu beitragen, dass sich die Dinge wirklich ändern."
Hier geht es zu dem Beitrag über Dresden-Gorbitz in der Multimedia-Reportage über vier Jahre DGB-Zukunftsdialog.