So geht Gewerkschaft im ländlichen Raum
Wo das Siegerland allmählich in den Westerwald übergeht, liegt der Landkreis Altenkirchen. Rund 130.000 Menschen leben hier, die kleinste Ortsgemeinde zählt kaum 50, die größte Stadt, Betzdorf, auch nicht mehr als 10.000 Einwohner*innen. Es gibt viel Handwerk, einiges an Landwirtschaft und auch eine ganze Menge Industrie, doch die meisten Betriebe sind klein oder bestenfalls mittelständisch. Klassischer ländlicher Rau eben. Ein eher schwieriges Pflaster für gewerkschaftliche Arbeit, oder?
"Schwierig - warum? Es kommt immer darauf an, was man aus der Situation macht", sagt Nicole Platzdasch. Die 33-Jährige, die in Hamburg studiert hat, ist seit gut sieben Jahren für die IG Metall Gewerkschaftssekretärin in Betzdorf, seit einem Jahr ist sie außerdem stellvertretende DGB-Kreisvorsitzende im Landkreis. Was sie und ihre ehrenamtlichen Kolleg*innen hier auf die Beine stellen, beweist, dass der DGB auch im ländlichen Raum durchaus Wirkung entfalten kann.
Am Zukunftdialog des DGB war sie von der Auftaktveranstaltung an mit beteiligt. "Ich habe gemerkt, dass sich etwas bei uns ändert", sagt sie. "Da waren von den Ehrenamtlichem aus den Kreis- und Stadtverbänden über die Hauptamtlichen aus den Regionen und Bezirken bis hin zum Bundesvorsitzenden alle mit dabei und haben sich ausgetauscht. Das hatte es vorher noch nicht gegeben." Viele für den Zukunftsdialog bereitgestellte Materialien zur Tarifpolitik, zu Investitionen, bezahlbarem Wohnen und anderen Themen wurden von Nicole und ihren Kolleg*innen vor Ort in der politischen Arbeit direkt eingesetzt.
Bildungsarbeit in den Schulen
"Wir sind auf ganz vielen Themenfeldern aktiv", beginnt Nicole ihre Aufzählung. "Wir haben Veranstaltungen zu Corona und Kurzarbeit organisiert und gegen Rassismus. Eine Veranstaltung zum öffentlichen Nahverkehr warf die Frage auf: Könnten bei uns auch E-Busse zum Einsatz kommen? Die Dörfer liegen teils weit auseinander, so viele Hügel und Täler sind zu bewältigen. Da reicht eine Batterieladung nicht lange."
Viele Buslinien im Landkreis werden nur alle zwei Stunden bedient und am Wochenende gar nicht. Das stellt die Gewerkschafter*innen auch vor ein organisatorisches Problem. Denn vor jeder Veranstaltung müssen sie sich fragen: Wer wird kommen? "Wir haben hier viele Berufspendlerinnen und -pendler, die in NRW oder in Koblenz arbeiten. Selbst im Auto macht das schnell eine Stunde mehr Fahrtzeit", erläutert Nicole. "Nachmittags und abends sind viele einfach geschafft. Zwölf oder 15 Kilometer Anfahrtsweg, um sich noch in unsere ehrenamtliche Arbeit einzubringen, sind dann schon mal eine echte Schmerzgrenze."
Statt darauf zu warten, dass die Leute zur Gewerkschaft hinkommen, macht sich die Gewerkschaft deshalb selbst auf den Weg und geht zu den Leuten. Nicole hat dem DGB zum Beispiel einen Weg in die allgemeinbildenden Schulen geebnet. "Zum Demokratie-Tag in Rheinland-Pfalz haben wir mit Schülerinnen und Schülern darüber gesprochen, was eigentlich ein Tarifvertrag ist und wie er zustande kommt", erzählt sie. "Wir haben Veranstaltungen in Schulem mit der Sängerin und Auschwitz-Überlebenden Esther Bejerano organisiert. Zum Volkstrauertag haben wir gemeinsam mit dem Bürgermeister von Daaden eine Veranstaltung gemacht, in der wir uns mit der Zwangsarbeit im Daadetal in der NS-Zeit beschäftigt haben. Erinnerungskultur ist uns extrem wichtig. Wir müssen doch wissen, wo wir herkommen. Erst dann können wir darüber reden, wo wir hinwollen und wie wir die Arbeit und das Leben von morgen organisieren wollen."
Gemeinsam gegen Hass und Hetze
Unter Federführung des DGB hat sich im Landkreis ein Netzwerk "Vielfalt und Demokratie" zusammengetan, in dem auch Diakonie, Caritas, Jugendverbände und andere Organisationen mitwirken. Nach zwei Brandanschlägen auf das Gesundheitsamt des Kreises und das Rathaus von Altenkirchen im November und im Januar schmiedeten sie gemeinsam mit weiteren Institutionen, Organisationen und Einzelpersonen das Bündnis "Demokratie und Zusammenhalt". "Dabei hat sich gezeigt, welches Vetrauen uns als DGB über die politische Lager hinweg entgegengebracht wird", sagt Nicole. "Gemeinsam stellen wir uns gegen Hass und Hetze."
Ein wichtiger Ort für den DGB im Landkreis ist das Kulturwerk in Wissen. Bis in die 1990er Jahre hinein stand hier das größte Walzwerk Europas. Übrig geblieben ist nur noch die frühere Ausbildungshalle. Zu seiner 1.-Mai-Kundgebung lädt der DGB hier alljährlich prominente Gäste zu Diskussionsrunden ein: eine Soziologieprofessorin, einen Volkswirt, einen Pfarrer. 2018 sang ein großer Chor vor einem fünfhundertköpfigen Publikum den ganzen Abend lang Arbeiterlieder, und viele im Saal sangen begeistert mit. "Es war ein riesiger Spaß, in dieser Halle, die für die Industriekultur von Rheinland-Pfalz steht, an die Traditionen der Arbeiter*innenbewegung zu erinnern", sagt Nicole.
Der DGB Kreisverband Altenkirchen ist nicht groß, kontinuierlich sind hier sieben Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich aktiv. Da bleibt viel Arbeit an wenigen Menschen hängen. Nicole zum Beispiel ist auch noch im Schulabschluss einer berufsausbildenen Schule aktiv, sie ist ehrenamtliche Richterin am Arbeitsgericht und Selbstverwalterin in der Arbeitsagentur. "Wir beziehen aber auch die Nachrücker*innen und andere Gewerkschafter*innen mit ein. Mit ihnen und mit den Einzelgewerkschaften können wir in die Betriebe im Kreis hineinwirken", sagt sie. Und trotzdem: Ist ein Landkreis wie Altenkirchen nicht doch ein eher schwieriges Pflaster für gewerkschaftliche Arbeit? Nicole schüttelt den Kopf. "Es kommt auf die Menschen an. Wenn man wirklich will, dann geht auch was."
Hier geht es zu dem Beitrag über Altenkirchen in der Multimedia-Reportage über vier Jahre DGB-Zukunftsdialog.